Ignaz Pocina.

Die Gummischuhe des Ignaz Pocina: Eine unerzählte Geschichte

Fassadenreklame Gummischuhe.

Für die Sanierung des geschichtsträchtigen Gebäudes Lutherstraße 32 wurde eine Befunduntersuchung durch eine Restauratorin durchgeführt. Ihr gelang es, an der stark verwitterten Fassade, in der Rahmung über den Geschäftsräumen die Inschrift „Ignaz Pocina“ zu ermitteln. Und neben der Eingangstür fand sich eine Werbung für Gummischuhe.

Ignaz Pocina.

Leider erbrachte eine Anfrage im Ratsarchiv der Stadt nichts – und die Adressbücher dieser Zeit weisen keinen Inhaber oder Mieter dieses Namens aus.

So sicher, wie es Ignaz Pocina gegeben hat, so sicher ist auch die Tilgung seines Namens aus den Annalen.

Sein Name weist auf seine jüdische Herkunft hin, die Schreibweise auf seine polnische Abstammung. Das war in der Zeit der Jahrhundertwende nichts außergewöhnliches; in Schlesien, in den Sudeten, überall da, wo sich ethnische Zugehörigkeiten überschnitten, feierte die Diversität fröhliche Urständ: Es wurde multikulturell getanzt, getrunken, geheiratet, und so mancher schnürte sein Bündel und ging dorthin, wo er oder sie bessere Möglichkeiten für sich und sein Geschäft vermutete.

Ein Herr Hitler, der mit seinen Vasallen all dies Jahrzehnte später grundlegend vernichten sollte, war gerade erst geboren und nuckelte an seinem Honigzipfel.

Ignaz war fünfzehn, geboren in Breslau, aufgewachsen in Schweidnitz, Schlesien. Er gehörte zu den Juden, deren Vorfahren nach der preußischen Judenemanzipation hier sesshaft geworden waren, jetzt bereits in der zweiten Generation, die eine Synagoge am Sedanplatz eingeweiht hatten, und die gekommen waren, um zu bleiben. In der Schweidnitzer Stadtgesellschaft waren sie gefestigt, hatten Verbindungen, Freundschaften, waren Rechtsanwälte, Bankiers, Geschäftsleute – kurzum, sie waren „gute Deutsche“, und legten darauf auch großen Wert.

Deshalb gingen nicht wenige von Ihnen, als das Brandschwert des 1. Weltkrieges aus der Scheide gezogen war, stolz und freiwillig in den Krieg für ihr Vaterland und bezahlten das nicht selten mit ihrem Leben.

Ignaz ging nicht, die Gnade der späten Geburt.

Für ihn war das Leben in Schweidnitz schon lang nicht mehr interessant, er konnte, wie viele Jugendliche in allen Zeiten, mit den Werten seiner Eltern nichts anfangen. Die Synagoge sah er lieber von außen, und das popelige Leben zu Hause war ihm fremd. Er wollte weiter, wollte selbst etwas schaffen, ohne die Behütung durch seine Eltern und ohne diese muffige Gemeinde.

Seine Schuhmacher-Lehre bestand er mit Ach und Krach, gerne machte er das nicht, diese übel riechenden Schuhe der Nachbarn flicken, damals musste ein gut gemachter Schuh noch mehrere Jahrzehnte halten.

Ignaz war nun Geselle, er war erwachsen, und wollte selbst seinen Weg finden. Sollte er die Schuhmacherwerkstatt seines Meisters führen, und eines Tages übernehmen? Sollte er, wie viele junge Männer in seiner Nähe, Handel treiben, die eine oder andere Mark verdienen, und irgendwann „eine gute Partie machen“? Das könnte seinen Eltern vielleicht gefallen; ihm selbst war der Gedanke ein Graus.

Nein, Ignaz wollte mehr, wollte etwas wagen!

Jeden Abend verbrachte Ignaz nun in dem Weinlokal unweit der Synagoge. Hier traf er Künstler, Lebenskünstler, Industrielle, Musiker, Handwerker. Eine neue Welt tat sich auf, wie sie sich jedem erwachsen Werdenden auftut. Eine freie Welt, ohne die Gängelung der Gemeinde, der Eltern, der Paten.

Und hier traf Ignaz Leora, die Tochter des Weinhändlers, auch sie im Aufbruch, auch sie im Unfrieden mit Ihrer Welt. Stunde um Stunde redeten sie, vergaßen darüber die Uhrzeit, und es kam, wie es kommen musste: Ignaz und Leora wurden ein Paar.

Keine Frage, dass das ihre beiden Familien nicht duldeten, dass sie es sogar verboten, unter Androhung schwerster Strafen!

In ihrer Verzweiflung klammerten sie sich nur noch fester aneinander. Sie suchten einen Ausweg – und fanden ihn in einer unscheinbaren Zeitungsnotiz: Es war gelungen, Kautschuk, der aus den Kolonien über das Meer eingeschifft wurde, mit einheimischen Mitteln zu ersetzen und industriell zu verarbeiten.

Ignaz‘ Überlegungen, von hier wegzukommen, nahmen eine plötzliche Wendung: Er konnte Schuhe machen, das hatte er gelernt. Schuhe waren wertvoll und fragil. Wenn man nun „Überschuhe“ aus diesem neuen Gummi, dem europäischen Kautschuk herstellen könnte? Die sich dann die Leute über den Lederschuh ziehen könnten, und so die Lebensdauer ihrer Schuhe vervielfachen ließe?

Durch glückliche Verbindungen konnte Ignaz für sich und seine Braut ein Geschäft in Görlitz mieten, mit Wohnung im selben Haus. Leora musste nicht lange überlegen: Sie packte ein paar Sachen und schon am nächsten Morgen nahmen sie einen Wagen nach Görlitz. Übermüdet, aber glücklich kamen sie an, bezogen das Geschäft und die Wohnung.

Am nächsten Tag trieb Ignaz einen Maler auf, der die Reklame auf die Fassade brachte: Ignaz Pocina. Gummischuhe aller Art.

Und das Geschäft brummte vom ersten Tage an. Zeitweise standen die Kunden sogar Schlange vor dem Laden. Bestellten vor. Jeder wollte Überschuhe aus Gummi, zumal das auch in der Mode urplötzlich angesagt war!

Leora schenkte Ignaz im selben Jahr einen Sohn. Um im Jahr darauf noch eine Tochter. Levi und Hannah wurden zum Licht der Familie.

Ignaz kam zu einem bescheidenen Wohlstand. Zwei Jahre später heiratete er seine Leora. Und, ja, er ging dafür sogar wieder in die Synagoge. Und danach auch noch mal. Und nochmal. Ja, irgendwie war er ja doch ein Jude, und so ganz falsch war das sicher nicht. Und der Rabbiner war auch ein feiner Zeitgenosse. Er flickte ihm die Schuhe.

Eines Tages war der Rabbiner weg. Und zwei Tage drauf der Rechtsanwalt, sein Freund von nebenan. Und eine Woche später die ganze Familie Rosenstern.

Ignaz war ein stolzer Deutscher, und den Gerüchten um Lager, Vernichtung traute er nicht. Das konnte nicht sein.

So etwas würde sein Deutschland niemals zulassen!

Als die Klingel ging, und ein Herr im dunklen Ledermantel „Sofort mitkommen!“ bellte, hielt er das deshalb zunächst für einen Scherz. Für einen Irrtum. So konnten doch seine Volksgenossen nicht sein. Das würde sich alles aufklären.

Sie wurden in einen Viehwaggon gesperrt, drei Tage ohne Wasser und ohne Essen. Die Fahrt endete in seiner alten Heimat, in Schlesien. Hier sah Ignaz Leora und die Kinder zum letzten Mal. Ein Arzt ging mit einem Schreibblock durch die Reihen: Ignaz, jung und kräftig, musste nach links treten. Seine Frau (wieder schwanger) und die Kinder wurden nach rechts geführt.

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2020 wusste keiner in Görlitz von einem Ignaz Pocina. Auch nicht von seiner Frau und seinen Kindern. Die Inschrift auf seinem Laden ist kaum noch lesbar.

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Lieber Ignaz Pocina, das ist die Geschichte, die Du nicht erzählt hast. Die Du nicht mehr erzählen konntest. Ich habe sie mir für Dich ausgedacht. Vermutlich war alles etwas anders. Oder ganz anders. Das wird nie jemand erfahren.

Ich lebe jetzt in Deinem Haus, es wird alles modern und schön! Aber das war es auch zu Deiner Zeit. Wohnungen vom Keller bis zum Dach, Ofenheizung, Badeöfen. Eine Waschküche, ein Grammophon, vielleicht? Ein kleiner Wohlstand, in einer zerfahrenen Zeit.

Wir wollen es jetzt besser machen.

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